Frühjahrstagung 2007 in Aurich

Im stilvollen Ambiente des historischen Saals der Ostfriesischen Landschaft in Aurich fand am 17. April 2007 die Frühjahrstagung des niedersächsischen Geschichtslehrerverbandes statt, zu der der Vorsitzende Dr. Martin Stupperich etwa 110 Kolleginnen und Kollegen begrüßen konnte. Auf Initiative des Auricher Kollegen OStR Friedemann Rast fand sie erstmals in Ostfriesland statt.
Nach einem Grußwort von Landschaftspräsident Helmut Collmann, der das Publikum zugleich in die Geschichte der Ostfriesischen Landschaft sowie in das Bildprogramm des Tagungslokals einführte, galt das Interesse der Teilnehmer vier Vorträgen, die ein breites Spektrum an aktuellen Themen und Problem abdeckten.
Den Anfang machte der niederländische Geschichtsdidaktiker Drs. Arie Wilschut (Amsterdam) mit einem Vortrag über den aktuellen Diskussionsstand zum niederländischen Geschichtscurriculum sowie die Kontroverse um den niederländischen Geschichtskanon. Beide finden angesichts der aktuellen Identitätskrise, in der sich die niederländische Gesellschaft nach den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh sowie der Kontroverse um Hirsi Ali befindet, verstärkte Aufmerksamkeit.
Wilschut stellte einleitend Überlegungen zum historischen Denkens an. Quellenstudien und daraus abgeleitete Urteile, wie sie oft im Zentrum des Geschichtsunterrichts ständen, seien genau genommen keine spezifischen Kompetenzen des Historikers, sondern fachübergreifende Fähigkeiten. Ziel des Geschichtsunterrichts müsse stattdessen die Fähigkeit zu einem genauer spezifizierten historischen Denken sein. Hierzu zählten der Sinn für Alternativen, die Sensibilisierung dafür, dass es in der Vergangenheit andere als die tatsächlich eingetretenen Entwicklungsmöglichkeiten gegeben habe, sowie das Verständnis der Relativität von Ideen, Werten und Glaubensüberzeugungen als Produkte ihrer Zeit.
Ausgehend von dieser Zielbestimmung exponierte Wilschut zunächst ein konzentrisches System von zehn Epochen, die als Referenzrahmen, suggestiv und kindgerecht benannt (z.B. Zeitalter der „Mönche und Ritter“, der „Entdecker und Reformer“, „der Perücken und Revolutionen“), im Zentrum des niederländischen Geschichtsunterrichts stehen und durch laufende, altersgemäße Wiederholung, Überarbeitung und Vertiefung den Schülern ein nachhaltiges Orientierungswissen ermöglichen sollen. Im Rahmen dieses Basismodells solle dann das historische Denken, in Abhängigkeit von der Jahrgangsstufe, erlernt werden. Für den Unterrichtenden stehe ein großer Freiraum zur exemplarischen Ausgestaltung der epochalen Kenntnisse offen.
Als querliegend zu diesen Bemühungen charakterisierte Wilschut demgegenüber die gegenwärtige Debatte um einen im Jahre 2006, im Zuge der raumgreifenden Identitätsdebatten in den Niederlanden entstandenen Kanon von 50 Daten der niederländischen Geschichte. Hier setze sich eine Tendenz zur Festschreibung bloßen Wissens durch. Insbesondere bemängelte Wilschut die fehlende Passung zum Referenzrahmen, da die ausgewählten Daten ungleich auf die zehn Epochen verteilt seien. Er kritisierte außerdem die Unausgewogenheit der Auswahlkriterien sowie die Einmischung der Politik in curriculare Fragen.
Dass die von Wilschut angesprochenen geschichtspolitischen Zugänge keineswegs allein in den Niederlanden eine kontroverse Diskussion nach sich ziehen, belegte die Diskussion im Anschluss an den Vortrag von Dr. Martin Stupperich zum Stand der Entwicklung der Bildungsstandards sowie der Erstellung eines niedersächsischen Kerncurriculums, an dem gegenwärtig eine Kommission des Kultusministeriums arbeitet. Der Versuch der Bildungsstandards, eine von fachlichen Interessen ausgehende Definition des Wissenswerten mit dem Kompetenzerwerb des Schülers zu verknüpfen, stieß im Publikum auf ein unterschiedliches Echo: Es wurde deutlich, dass unter den Geschichtslehrern gegenwärtig kaum Einigkeit über den einzuschlagenden Kurs zu erzielen ist. Den Befürwortern einer stark schülerorientierten Reformulierung der Lernziele und Lehrpläne steht nach wie vor eine beträchtliche Anzahl von Gymnasiallehrern gegenüber, die nicht bereit sind, Einbußen am wissenschaftlichen Standard und am „Denken vom Fach her“ zu akzeptieren. Deutlich wurde auf diese Weise, dass die Debatten über die Praxis des Geschichtsunterrichts in den folgenden Jahren weiter geführt werden müssen. Ob das Erscheinen des Kerncurriculums hier für Ruhe sorgen kann, bleibt abzuwarten.
Der Nachmittag stand dann wieder ganz im Dienste gegenwärtig aktueller Themen des Oberstufenunterrichts. Professor Dr. Peter Aufgebauer (Göttingen) hielt einen Überblicksvortrag zum Thema „Spätmittelalter“, das im Zentralabitur 2009 als thematischer Schwerpunkt verbindlich ist. Aufgebauer schilderte zunächst den Verfall der hochmittelalterlichen Königsherrschaft im Römischen Reich, mit dem der Aufstieg des Papsttums zur geistlichen und institutionellen Vormacht einherging. Während die Monarchien in Frankreich und England dank einer zentralisierten Fiskalverwaltung ihre Herrschaft konsolidieren und ausbauen konnten, litt das deutsche Königtum an strukturellen Mängeln der Herrschafts- und Wirtschaftsgrundlage (Fortbestand des Wahlkönigtums ohne dynastische Legitimation, Fehlen von Herrschaftszentren, Verwaltung, theoretischem Wissen, chronische Finanzschwäche), infolge derer die Allodifizierung des Reichsgutes, die Herausbildung von Landesherrschaften und der Aufstieg der freien Reichsstädte fortschritten. Im Reich kam es zur Herausbildung dreier großer, konkurrierender Dynastien, der Habsburger, Luxemburger und Wittelsbacher und gelegentlichen Doppelwahlen von Königen. Demgegenüber dokumentierte Papst Bonifaz VIII. in der Bulle „Unam sanctam“ (1302) die gewachsene Autorität des Papsttums, wie sie sich etwa im Anspruch auf vollständige Abgabefreiheit kirchlicher Institutionen zeigte. Mittelfristig führte dies zum Konflikt mit dem französischen Königtum, dem es zeitweise gelang, die Päpste unter seine Kontrolle zu bringen. Im sog. Armutsstreit, der sich an der Eigentumsfrage, die vom Franziskanerorden aufgeworfen worden war, entzündete, verbanden sich weltliche und geistliche Zielsetzungen und führten zu theologisch niveauvollen Diskursen. Der Beginn des großen abendländischen Schismas 1378 führte zum weiteren Verfall des Machtanspruchs der Kurie.
Mit der Goldenen Bulle von 1356, dem Fundamentalgesetz des Reiches bis 1806, gelangte der verfassungsgeschichtliche Wandel im Reich an einen vorläufigen Abschluss. Karl IV. konsolidierte seine Herrschaft über eine prononcierte Hausmacht­politik mit ausgreifenden Eigenherrschaften, der Herausbildung von Residenzen (Prag) und einer Förderung von Handelsaktivitäten, unter anderem durch Verkehrsverbindungen. Bei diesem Herrscher zeichnete sich ein qualitativ neues Herrschaftskonzept ab, das jedoch von seinem unfähigen Nachfolger Wenzel nicht weitergeführt werden konnte.
Bedeutete die Entmachtung Wenzels durch die Kurfürsten im Jahre 1400 das vorläufige Scheitern der monarchischen Idee im Reich, so war dies nur ein Ausdruck einer von Zeitgenossen längst als krisenhaft empfundenen Epoche. Erstmals festgestellte, subjektiv empfundene Überbevölkerung infolge von Rohstoffknappheit, schwere Hungersnöte sowie die paneuropäische Pestepidemie, das Auftreten neuer Infektionskrankheiten, eine Klimaabkühlung sowie Naturkatastrophen gaben dem Leben im Spätmittelalter eine mentale Grundierung aus Unsicherheit und Gefährdung. Nimmt man die alltägliche Gefährdung durch die Fehde hinzu, die immer auf Schädigung des Umfeldes, also der einfachen Grundholden abzielte, so kann man von einer Krise des Spätmittelalters (F. Graus) sprechen. In ihrem Gefolge kam es umgekehrt zur Konjunktur der um die Seelsorge bemühten Bettelorden sowie der Entstehung der neuen Laienfrömmigkeit der Devotio moderna.
Aufgebauer wies auf die starke Akzentuierung strukturhistorischer Fragestellungen gegenüber der politischen Geschichte in den thematischen Schwerpunkten zum Spätmittelalter hin.
Zum Abschluss des Tagungsprogramms plädierte StD Heinz-Peter Platen (Neuenhaus) dafür, die Chancen des neuen Seminarfachs auch im Fach Geschichte zu nutzen. Gerade dieses Fach sei im besonderen Maße für fächerübergreifende Fragestellungen geeignet, weil es dies auch bisher immer schon getan habe und sich darüber hinaus auch die Historisierung anderer Fächer als Thema eigenständigen Arbeitens anbiete. Zahlreiche Materialien ständen für diese neue Art des Arbeitens zur Verfügung. Platen machte daran anschließend zahlreiche konkrete Vorschläge für Kursthemen, die von den Teilnehmern mit großem Interesse aufgenommen wurden.
Wieder einmal war das Echo auf die Tagung ein ausgesprochen positives. Es wäre schön, wenn sich der eine oder die andere Teilnehmer(in) zum Eintritt in den Verband entschließen könnte, um dessen Arbeit zu unterstützen.

Johannes Heinßen