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Deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte im Schulunterricht. Fachtagung in Hamburg, 22./23.4.2016, Tagungsbericht

Dass für unsere Schülerinnen und Schüler die Geschichte der DDR, was den eigenen Erkenntnisgewinn anbelangt, prinzipiell keinen anderen Rang besitzt als diejenige des antiken Griechenlands oder Roms, die sie ebenfalls nur vermittelt durch Quellen und Darstellungen rezipieren, nicht aber aus eigenem Erleben rekonstruieren, ist längst erprobte Praxis des Schulunterrichts. Mittlerweile sind aber auch die Kollegien vielfach mit Nachgeborenen besetzt. Was lag also näher, als eine große fachdidaktische Tagung zum Thema der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte zu organisieren, zumal das Thema auf dem Lehrplan des Hamburger Zentralabiturs 2017 steht? Gemeinsam mit der Stiftung Aufarbeitung und dem Leiter ihres Arbeitsbereiches schulische Bildungsarbeit, Dr. Jens Hüttmann, nahm Dr. Helge Schröder, Fachseminarleiter Geschichte/Politik und Landesvorsitzender des Hamburger Fachverbandes Geschichte und Politik, die mühevolle Arbeit auf sich. Das Ergebnis der am 22./23.4.2016 im Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung abgehaltenen Tagung konnte sich sehen lassen.

Den Eröffnungsvortrag hielt der Nestor der deutsch-deutschen Geschichtsschreibung, der zunächst Bielefelder später Potsdamer Historiker Professor Dr. Christoph Kleßmann. Seine Werke über Die doppelte Staatsgründung (1982) und Zwei Staaten, eine Nation (1988) waren Pionierleistungen auf einem Gebiet, in dem sich die Spezialisten gern entweder nur dem einen oder anderen deutschen Staat oder der osteuropäischen Geschichte zuwandten. Über 25 Jahre nach der Wiedervereinigung hat er mit seinem perspektivischen Zugriff einer „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ Recht behalten. Dabei glaubten in den achtziger Jahren nur noch wenige Zeitgenossen an die Wiedervereinigung. Das Konzept des von Helmut Kohl angeregten Bonner Hauses der deutschen Geschichte von 1983/84 war ganz auf die Bonner Republik abgestellt, Anbiederungen westdeutscher Politiker an die DDR-Staatsführung waren auch kurz vor der Wende von 1989 gang und gäbe. In der Rückschau ist eine solche Trennung in zwei nationale Wege nicht mehr möglich. Ebenso wenig lässt sich die (etwa noch von Hans-Ulrich Wehler vertretene) Dichotomie von Erfolgsgeschichte hie und Misserfolgs­geschichte da aufrecht erhalten. So läuft es aktuell auf Konzepte einer integrierenden Geschichtsschreibung hinaus, die freilich den fundamentalen Unterschied von Demokratie und Diktatur nicht vernachlässigen darf. Wie, fragte Kleßmann, könnten die Teile als Ganzes erkannt werden? Er nannte dafür drei Bezugspunkte: 1. Die Besatzungsmächte und die Beziehungen der Deutschen zu ihnen, 2. Die eigenständige innere Entwicklung von Demokratie und Diktatur, 3. Die spezifischen Formen von Wechselwirkungen und Verflechtungen als tragende Elemente in der Architektur der deutschen Nachkriegsgeschichte; Mischungsverhältnis und Grad der Verflechtung waren unterschiedlich. Ein konzeptionelles Problem, so Kleßmann, bestehe darin, zusätzlich die Entwicklungsphasen und -profile in dieses Gerüst einzubauen.
Im Folgenden beschränkte er sich auf den dritten Punkt: Die Ambivalenz des Titels Geteilte Geschichte (hg. von Frank Bösch, 2015) bringe den Zusammenhang von Teilhabe und Trennung gut auf den Punkt. Gemeint sind damit die gemeinsame Geschichte, das Verhältnis durch intensive Kommunikation („zwei Staaten, eine Hörfunknation“ (Axel Schildt)), die penetrante Abgrenzung der SED sowie die geteilte Vorgeschichte der Berliner Republik. Problematisch bleibe die Periodisierung und Phasierung, die insbesondere von der Erforschung der Geschichte der SED ausgegangen sei. Ohne sie exakt zu datieren, nannte Kleßmann 1. 1945 als Endpunkt der deutschen Katastrophe, 2. den Ost-West-Konflikt seit 1917 mit seiner besonderen Ausprägung als Kalter Krieg seit 1947 als Determinante der Geschichte Europas, der die deutsch-deutsche Geschichte als Kontrastgeschichte konfiguriert habe. Diese Phase sei mit dem atomaren Patt der sechziger Jahre zu Ende gegangen. Damals hätten sich auch bereits erste Risse in den Blöcken gezeigt, ohne die Grundsatzkonfrontation in Frage zu stellen. 3. Die Kontrastgeschichte zwischen Demokratie und Diktatur. 4. Eine Phase der Abgrenzung und Verflechtung. Hier habe aufgrund der Intensität der Verflechtung zweier deutscher Staaten eine Sondersituation vorgelegen. Es galt, systemübergreifende Problemlagen fortgeschrittener Industriegesellschaften zu bewältigen. Und schließlich kam es dann 5. zu Trends der Wiederannäherung und gesteigerter Kommunikation (Berlin-Abkommen, Journalisten-Akkreditierung, wissenschaftliche Konferenzen). Die DDR habe Entspannung in Grenzen gewollt, handelte sich damit jedoch unerwünschte Kontakte und die Idee der Menschenrechte ein.
Als Beispiele für die „asymmetrische Verflechtung“ nannte Kleßmann den Anspruch auch der DDR, Kernstaat eines einheitlichen Deutschlands auf der Grundlage eines antifaschistischen Gründungsmythos zu sein, die Präsenz westdeutscher Medien, gerade als Folge der Entspannungspolitik; dieselben Medien hätten dann auch die Bilder der friedlichen Revolution frei Haus geliefert. Umgekehrt habe die DDR aber auch die Bundesrepublik beeinflusst: So könne man sich fragen, inwieweit diese den „langen Weg nach Westen“ (H.A. Winkler) durch die wenig attraktive Nachbarschaft einer deutschen Diktatur im Westen schneller beschritten habe. Auch der irrationale Antikommunismus der fünfziger Jahre sei eine Wirkung der DDR gewesen. Die Zwangsvereinigung von SPD und KPD 1946 habe schließlich den Kurs Kurt Schumachers in der West-SPD gestützt. In der Geschichtswissenschaft habe die Existenz einer DDR-Historiographie die Rezeption des Marxismus in Westdeutschland mutmaßlich verzögert. Die Geschichtsschreibung des deutschen Widerstandes von 1933-1945 habe in Westdeutschland den kommunistischen und in Ostdeutschland den bürgerlichen Widerstand weitgehend ausgeblendet. Die evangelische Kirche in der DDR sei von westdeutschen Zuwendungen abhängig gewesen und daher nur zu einem „subventionierten Heldentum“ in der Lage gewesen. Ihre Rolle werde heute kritisch gesehen, doch habe sie konsequent versucht, ihren Handlungsspielraum zu erweitern.
Trotz all dieser Beispiele sei jedoch auch eine eigene Geschichte der deutschen Staaten legitim. Der Ansatz von der wechselseitigen asymmetrischen Verflechtung müsse auch nicht überstrapaziert werden. Zudem sei Europa (West- wie Ost-) als Kontext für eine Nachkriegsgeschichte unverzichtbar. Der Boom der DDR-Forschung sei vorbei, es gebe kaum noch weiße Flecken.

Zweiter Referent war der Oldenburger Geschichtsdidaktiker Professor Dr. Malte Thießen. Er untersuchte das Tagungsthema auf seine geschichtsdidaktischen Perspektiven. Ungeachtet des Trends zur transnationalen Geschichte dominiere die deutsche Geschichte im Geschichtsunterricht heute immer noch. Aus der deutsch-deutschen Geschichte lasse sich im Vergleich die Methodenkompetenz schulen: Die Bundesrepublik sei in der DDR-Geschichte implizit immer vorhanden, auch wenn man sich auf die DDR konzentriere (Beispiel: Planwirtschaft). Aufgabe sei es jeweils, sinnvolle Kriterien für Vergleiche zu finden; man dürfe aber nicht der Gefahr der Verkürzung erliegen, indem man z.B. die zwei deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts gleichsetze.
Durch Vergleiche und Versachlichungen lasse sich auch die Sachkompetenz schulen: Im Vergleich lese sich die Geschichte der Bundesrepublik immer recht schön; aber auch im Westen habe es eine graue Welt mit Geschichten des Untergangs und Scheiterns gegeben. Einige Entwicklungen hätten in der DDR früher als im Westen stattgefunden. Insofern sei die Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR ein Katalysator für die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Bundesrepublik. Die vermeintliche Asymmetrie der Quellen falle dabei gar nicht so stark ins Gewicht, denn auch West-Quellen seien vielfach problematisch. Das wiederum lasse die Notwendigkeit guter Quellenkritik deutlich werden.
Der Beitrag zur Problemgeschichte der Gegenwart lasse sich an den unterschiedlichen Prägungen von Ost- und Westbiographien gut herausarbeiten. Soziale Erosionsprozesse habe es nicht nur in der DDR gegeben; auch in der Bundesrepublik habe es ein fundamentaler Wandel stattgefunden.
Sinnvoll sei auch der Einsatz von Zeitzeugen im Unterricht. Als „Mensch gewordene didaktische Reduktion“ würden sie oft in alltagsgeschichtlichen Zusammenhängen eingesetzt. Wichtiger sei jedoch die „Erfahrungsgeschichte“ (Alexander von Plato), die Zeitzeugenaussagen eher im Zeichen ihres Bedürfnisses nach retrospektiver Sinnstiftung sehe und sie zudem als von der Gesprächsatmosphäre beeinflusst verstehe. Insofern dienten Zeitzeugen heute stärker als früher Quellen für Geschichte als sozialen Konstruktionsprozess; ihre historische Narration eigne sich daher vorzugsweise für die Dekonstruktion. Schließlich könne die deutsch-deutsche Geschichte anhand von Räumen rekonstruiert werden, an und in denen die damaligen Spannungen sichtbar würden.
Thießen verstand seine Ausführungen als Plädoyer, einer Problemgeschichte der Gegenwart nachzuspüren. Die DDR-Geschichte sei eine Geschichte mit Gegenwart. Dass er unter den möglichen Nutzanwendungen just die Urteilskompetenz aussparte, blieb im Publikum nicht unbemerkt.

Es schlossen sich zwei Workshop-Bänder an, in denen Kolleginnen und Kollegen aus dem ganzen Bundesgebiet anhand besonderer Themen und Facetten der deutsch-deutschen Geschichte praktische Unterrichtsanregungen gaben. Die Teilnehmer konnten hier vielfach von einem reichen Materialfundus profitieren. So widmete sich Regina Kampe (Wiesbaden) dem Thema „Grenzerfahrungen. Leben mit der Grenze – Blicke von Ost und West“. Das Thema eignet sich hervorragend für schwächere Lerngruppen, die mit der Abstraktion des Systemkonflikts überfordert wären, auch wenn die Erfahrung einer Grenze mit Stacheldraht und Kontrolle für die meisten Schüler im grenzenlosen Europa nicht mehr zur eigenen Lebenserfahrung gehört. Eine Vielzahl von Bildern der deutsch-deutschen Grenze (Ritter/Lapp, Deutschland grenzenlos. Bilder der deutsch-deutschen Grenze damals und heute, 32015) erlaubt es, eine eigene Geschichte der deutschen Teilung sowie der (westdeutschen) Verarbeitung des Schicksals eines Grenzstreifens, der das eigene Land durchzieht, zu rekonstruieren. Geeignete Filme für dieses Perspektivierungen sind Sonnenallee (1995) und die Dokumentation Mauerhase (2009, bei Youtube abrufbar), der die Geschichte der Berliner Mauer in höchst ungewöhnlicher Perspektive, nämlich aus der Sicht der im Grenzstreifen lebenden Wildkaninchen erzählt. Zahlreiche Grenzmuseen (z.B. Grenzhus Schlagsdorf, Hötensleben, Mödlareuth) stehen als außerschulische Lernorte zur Verfügung. Einzelschicksale wie das des Fluchthelfers Michael Gartenschläger können untersucht werden. Schließlich mündete der Todesstreifen in das „Grüne Band“, ein zusammenhängendes Naturschutzgebiet, das wertvolle Lebensräume verbindet.
Dr. Heidi Martini (Hamburg) eröffnete den Teilnehmern ihres Workshops „Kalter Krieg mit der Kamera“ einen Einblick in die DEFA-Filmproduktion. Diese war konsequent dem politischen Auftrag untergeordnet, der sich bis in den Trickfilm hinein erstreckte. Die umfangreiche Produktion der DDR eröffnet zahlreiche Möglichkeiten der Filmanalyse und somit der Medienbildung.

Eindrucksvoller Ausklang des ersten Tages war das Zeitzeugeninterview mit dem Schauspieler Jochen Stern (*1928), der als 19-jähriger Neulehrer in Frankfurt/Oder unter einem konstruierten Spionageverdacht verhaftet, zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde und sechs Jahre in Bautzen inhaftiert war, bevor er amnestiert wurde und nach Westdeutschland zu seiner Familie ausreisen durfte. Bei aller Drastik seiner Schilderungen über Ungewissheit, Willkür und Misshandlungen erleichterte die bisweilen geradezu humorvolle Distanz dieses Opfers, das frei von Rachegedanken über seine Haftzeit berichtete, das Zuhören.

Für den zweiten Konferenztag hatte Professor Dr. Jörg Baberowski (Berlin) aus Krankheitsgründen absagen müssen. Stattdessen zeigte Tagungsleitung Ausschnitte aus der preisgekrönten Dokumentation 1989 – Poker am Todeszaun (2014) (http://www.gebrueder-beetz.de/produktionen/1989-doku), die die Entscheidungsabläufe und -nöte der ungarischen Regierung rund um die Grenzöffnung im Herbst 1989 nachzeichnet. Auf diese Weise gelang es, die über Deutschland hinausweisenden Kontexte der deutsch-deutschen Geschichte, die Baberowski ursprünglich hatte darstellen sollen, exemplarisch vor Augen zu führen. Bei dieser Gelegenheit warb Hüttmann für das Zeitzeugenportal zur DDR-Geschichte, in dem Lehrerinnen und Lehrer mit Hilfe einer Suchfunktion Zeitzeugen für den Unterricht finden und anfordern können (www.zeitzeugenbuero.de).

Auf dem Podium diskutierten anschließend die Professoren Christoph Kleßmann, Malte Thießen und Dietmar von Reeken (Oldenburg) sowie Ulrich Bongertmann, der Bundesvorsitzende des VGD, die Frage „Wie sinnvoll ist ein Vergleich von NS-Diktatur und SED-Diktatur?“. Insbesondere Kleßmann ließ einleitend die wissenschaftsgeschichtlichen Dimensionen des Themas Revue passieren: Ernst Noltes These vom NS als Reaktion auf die stalinistischen Großverbrechen sei nicht wegen des Vergleichs, sondern nur wegen des Kausalnexus unhaltbar gewesen. Inhaltlich habe der Streit nicht viel Neues gebracht. Die Aufarbeitung des DDR-Unrechts sei in den neunziger Jahren, unter anderem durch die Enquete-Kommission des Bundestages zur SED-Diktatur, schnell aufgearbeitet worden, wohl auch, weil man nicht abermals den Fehler der fünfziger Jahre habe begehen wollen, in denen die Aufarbeitung des Nationalsozialismus unterblieben sei. Heute habe das Thema an Brisanz und Aktualität verloren und münde eher in eine breite Kommunismusforschung ein.
Überwog bei den Universitätshistorikern die Skepsis angesichts der vielfältigen Differenzierungserfordernisse, so sahen dies die zahlreichen Beiträge von Unterrichtspraktikern deutlich pragmatischer und waren weniger von Skrupeln befallen. Deutlich wurde auch, dass Lerngruppen, die immer stärker vom Migrationshintergrund der Schülerinnen und Schüler geprägt sind, häufig andere Vergleichsbezüge benötigen und einer deutschen Nabelschau wenig zugänglich sind, zumal sie ganz andere Wertvorstellungen mitbringen.

In der abschließenden Diskussionsrunde zur Lehrerausbildung traten dieses Thema und die mit ihm verbundene Heterogenität der Lehrgruppen in seiner enormen Tragweite für die Zukunft des Geschichtsunterrichts erneut auf. Andere, ebenfalls wohlbekannte Probleme wurden zumindest angesprochen: die fehlende fachliche Orientierung im Studium, die die Referendarinnen und Referendare häufig fachlich unzulänglich vorbereitet in den Vorbereitungsdienst entlasse. Aufgeräumt werden musste von Ausbilderseite wieder einmal mit dem Klischee, die Bedingung erfolgreicher Besuchsstunden sei ein Methodenfeuerwerk. – Alle Ausbilder waren sich einig, dass nicht zwangsläufig laminiert werden müsse, um guten Unterricht zu zeigen.

Insgesamt entwarf die Tagung das Bild eines Unterrichtsthemas, das sowohl quellen- als auch perspektivtechnisch aus dem Vollen schöpfen kann, wozu die Stiftung Aufarbeitung, aber auch die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen viel beitragen, die beide Materialien in Hülle und Fülle bereitstellen. Auch wenn die Karawane der Geschichtswissenschaft längst zu neuen Fragestellungen aufgebrochen sein mag, steht das Thema geschichtspolitisch nach wie vor hoch im Kurs und ist auch geschichtsdidaktisch gut und vielfältig zu rechtfertigen. Nicht nur der deutschen Nation, auch der planerischen Kreativität sowie dem Unterrichtsengagement der unterrichtenden Kollegen sind seit 1990 keine Grenzen mehr gesetzt.

Johannes Heinßen