NGLV ab 2022 4 zu 3

Herbsttagung 2025 – Bericht

Zur Herbsttagung 2025 des Niedersächsischen Geschichtslehrkräfteverbandes fanden sich am 5. November 2025 rund 100 Lehrkräfte des Landes in der gewohnten Tagungsstätte, dem Kulturzentrum Pavillon in Hannover, ein. In seiner Begrüßung wies Johannes Heinßen, der Vorsitzende des NGLV, auf die Gefahren hin, die für den Geschichtsunterricht durch die angekündigte Oberstufenreform zu erwarten seien. Zwar sei das Ende der bisherigen Privilegierung als gesetztes Fach im B-Profil nachvollziehbar und werde sich hoffentlich positiv auf die Leistungen im Fach auswirken. Die Absicht, das Fach in Klasse 11 zur Disposition zu stellen und abwählbar zu machen, gefährde indes die Statik des Geschichtsunterrichts insgesamt. Nicht nur würde auf diese Weise den Schülern aus Integrationsfächern die Möglichkeit vorenthalten, sich in der Vorbereitung auf die Qualifikationsphase mit den fachlichen Eigenheiten vertraut zu machen, wie es die Einführungsphase derzeit vorsehe; vor allem erhöhe der drohende Verlust zweier Stunden den Druck auf das Curriculum der Sekundarstufe I, da fortan Inhalte nicht mehr zuverlässig in der Einführungsphase vertieft werden könnten. Demokratiebildung, das Stichwort der Stunde, werde dem Fach weiterhin schwergemacht, solange der Stundenschwerpunkt (vier von neun) in den Jahrgängen 5 und 6 liege. Auch die neuen Formate der Leistungsüberprüfung, die sogenannten Kombinierten Leistungsnachweise, seien bislang noch mit vielen Ungewissheiten behaftet und würden mutmaßlich die Praxis des bei vielen Kollegen unbeliebten Seminarfaches über alle Grundkurse verteilen.

Den ersten Vortrag des Vormittags hielt der Berliner Neuzeithistoriker Professor Dr. Oliver Janz, dessen Monografie 14. Der Große Krieg (2013) eine der wichtigsten Vorbereitungslektüren für Lehrkräfte darstellt, die gegenwärtig das Thema „Der Erste Weltkrieg – nationale und internationale Perspektiven“ unterrichten. Um dessen globalgeschichtliche Dimension ging es dann auch. Sie sei erst in den letzten 15 bis 20 Jahren von der Forschung entdeckt worden und wird in der internationalen Online-Enzyklopädie 1914-1918, deren Chefherausgeber Janz ist, bis heute immer weiter erforscht. Der Krieg habe eine koloniale Dimension besessen: Frankreich und Großbritannien griffen in großem Stil auf die Ressourcen ihrer Imperien zurück, die 1914 viel größer waren als in den Jahrzehnten zuvor und ein Viertel der Weltbevölkerung umfassten.
Die britischen Dominions unterstützten das Mutterland; ihre Gefallenenzahlen erreichten dasselbe Niveau wie das der britischen Inseln. Politisch führte dies zu ihrer Verselbständigung, die ihnen auch zugestanden wurde. Entsprechend entsandten sie eigene Delegationen zu den Pariser Friedensverhandlungen. Ihre Nationsbildung wurde durch mit dem Krieg verbundene Mythen und Symbole (wie Gallipoli für Australien und Neuseeland) vorangetrieben. 2014 gab Australien das meiste Geld für die Jahrhundertfeier des Gedenkens aus.
Inder wurden seit 1915 in großem Maße an vielen Fronten des Krieges eingesetzt; insgesamt wurden 1,3 Millionen indische Soldaten mobilisiert, von denen 60.000 fielen – das sind mehr Soldaten, als die serbische Armee umfasste, und mehr Kriegsopfer, als Belgien zu beklagen hatte. Auch in Indien erhoben sich Forderungen nach einem Home Rule. 1919 wurden deshalb Teile der Lokalverwaltung in indische Hände, genauer: in die der lokalen Eliten gelegt. Wilsons Parole von der nationalen Selbstbestimmung weckte in Indien große Hoffnungen. Sie wurden aber hier wie vielerorts enttäuscht, wie das Massaker vom Amritsar am 13. April 1919 zeigte, in dem britische Truppen rund 380 indische Demonstranten töteten. Eine ägyptische Delegation wurden auf dem Weg nach Paris von den Briten abgefangen und interniert. Janz nannte die Monographie The Wilsonian Moment von Erez Manela (2007) als Schlüsselwerk zu diesem Thema.
Frankreich rekrutierte insgesamt 550.000 Soldaten in den Kolonien. Sie stammten aus Nord- und Westafrika, Somalia und Indochina, wurden vielfach drangsaliert und als Kanonenfutter eingesetzt. Als Arbeitskräfte wurden sie streng überwacht und schlecht bezahlt. Erhebungen der einheimischen Bevölkerung in den Kolonien richteten sich zwar gegen die Aushebungen, stellten die französische Kolonialherrschaft aber nicht grundsätzlich infrage.
Auch in Afrika wurde gekämpft. Nur Togo wurde von den Alliierten schnell eingenommen. In Kamerun hielten die deutschen Truppen bis 1916 durch. Der Krieg in Deutsch-Südwest-Afrika wurde ausschließlich von Weißen (der deutschen Schutztruppe und der Südafrikanischen Union) ausgefochten. Dies schuf innere Spannungen in Südafrika, weil die deutschfreundlichen Buren damit nicht einverstanden waren. Der Krieg in Deutsch-Ostafrika dauerte sogar bis 1918. So lange gelang es der deutschen Schutztruppe, sich den britischen Angriffen zu widersetzen, was einen Mythos um ihren Oberbefehlshaber Paul von Lettow-Vorbeck schuf. Lange als Nebenschauplatz abgetan, war der Krieg für die Region verheerend, zumal er als Bewegungskrieg in einem Gebiet ohne Straßen geführt wurde. Einheimische waren in großem Stil als Träger eingesetzt, junge Männer mit dramatischen Auswirkungen auf die Demographie der Region zwangsrekrutiert. Die Todesrate unter ihnen entsprach der der Westfront. Insgesamt fielen diesem Krieg 650.000 Menschen zum Opfer, fast ein Zehntel der Einwohner des Landes.
Nach Stig Förster vernetzten sich im Weltkrieg verschiedene globale Konflikte zu einem globalen Geschehen. Mit dem Eintritt der Bündnispartner kamen weitere Konflikte ins Spiel. So kämpften die Jungtürken in Kleinasien für die Wiedergewinnung einer türkischen Souveränität und zugleich für die Abwehr Russlands. Der Kriegseintritt des Osmanischen Reiches trug den Krieg bis nach Vorderasien. Es kam zum Genozid an den Armeniern, Hungersnöten und Epidemien im Nahen Osten. Ein Drittel der Weltkriegsopfer entfällt auf das Osmanische Reich.
Eine globale Dimension besaß auch der deutsche U-Boot-Krieg. Der Kriegseintritt der USA zog den vieler südamerikanischer Staaten nach sich. Der Bürgerkrieg in Russland erweist den Weltkrieg als Teil eines umfassenderen Geschehens von 1911 bis 1922. Überhaupt relativiert ein globalerer Blick die westeuropäische Periodisierung auf die Jahre 1914-1918. Das zeigt auch ein Blick auf Kleinasien, wo die Truppen Mustafa Kemals die Ergebnisse des Vertrags von Sèvres (1920) alsbald revidierten, die Griechen von der Küste Kleinasiens vertrieben und einen neuen Vertrag, den von Lausanne (1923), aushandelten.
Ökonomisch lag der Erfolg der Alliierten darin, dass sie im Gegensatz zu den Deutschen auf die Ressourcen der globalen Märkte zurückgreifen konnten. Die Entente kontrollierte diese Märkte unter anderem dadurch, dass sie den Schiffsverkehr und das Versicherungswesen dominierte. JP Morgan fungierte als Einkaufsagent in den USA und verhinderte, dass die Mittelmächte Kredite an der Wall Street bekamen. Ökonomisch bedeutete der Erste Weltkrieg keine Deglobalisierung, sondern nur eine Reorganisation zulasten der Mittelmächte. Er brachte auch tiefgreifende Auswirkungen auf Regionen, in denen nicht gekämpft wurde, mit sich.
Heute spricht man eher von einer Globalgeschichte in Zeiten des Weltkrieges. Für Japan stellte er eine willkommene Gelegenheit dar, sein Territorium zu vergrößern. Es entfaltete dabei einen Subimperialismus. So eroberte es Tsingtau mit ebenso geringem Aufwand wie die deutschen Pazifikkolonien. Wo die Europäer als Handelspartner ausfielen, ergaben sich neue Absatzmärkte. Über die Medien nahm Japan intensiv am Krieg teil. Die japanischen Eliten sahen voraus, dass der nächste Krieg gegen die USA geführt werden würde.
In China gab es Bestrebungen, in den Krieg einzutreten, um die politische Gleichberechtigung wiederherzustellen. Dies wurde von Japan vereitelt. Dennoch stellte China Arbeiter, die in Frankreich entstandene Lücken im zivilen Sektor füllten. 1917 durfte es dann auf Druck der USA in den Krieg eintreten, wurde aber in Versailles enttäuscht, was zu Studentenprotesten führte. China wandte sich von Wilson ab und den Bolschewiki zu.
Die USA waren von Anfang an am Krieg auf unterschiedliche, zunächst finanzielle und wirtschaftliche Weise am Krieg beteiligt, sodass die Zäsur des April 1917 kaum aufrechtzuerhalten ist. In Lateinamerika schuf der Krieg den USA mehr Handlungsfreiheit. Haiti, Kuba und die Dominikanische Republik wurden quasi Protektorate der USA. Diese schrieben den südamerikanischen Staaten Exporte vor und waren ihr wichtigster Kreditgeber und Investor. Der Krieg hatte auch mentale und politische Folgen. Im Rahmen einer intensiven medialen Teilnahme wandelte sich in Lateinamerika das Bild Europas – es wurde abgewertet und war fortan nicht mehr das Zentrum der Welt und des Fortschritts. Unter der umgekehrt erfolgenden Aufwertung des Eigenen litten die Oligarchien der südamerikanischen Länder. Die Absage an europäische Modelle wurde durch politische Bewegungen, unter anderem von Indigenen und Studenten, verfolgt, die nun die Zukunftsfähigkeit Lateinamerikas propagierten.
Für viele Regionen der Welt, so lautete das Resümee von Janz, war der Erste Weltkrieg keine Urkatastrophe, sondern führte eher zu einer Aufbruchstimmung. Als weltumspannender Wirtschaftskrieg sorgte er für eine tiefgreifende Veränderung der wirtschaftlichen Kraftverhältnisse. Weltweit war er ein Medienereignis. Die Frage nach den Folgen des Krieges für die Welt seien aber erst in Ansätzen erforscht.

Der zweite Vortrag des Vormittags wurde von gleich vier Referierenden bestritten. Der Hannoveraner Geschichtsdidaktiker Professor Dr. Meik Zülsdorf-Kersting hatte drei Mitglieder seiner Arbeitsgruppe, Dennis Bruns, Lisa Dopke-Franke und Dr. Jan Schomann, mitgebracht, um dem Publikum einen Einblick in die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Auswertung des niedersächsischen Zentralabiturs zu geben. Studiengrundlage war ein repräsentatives Sample von 475 Abiturklausuren des Abiturjahrgangs 2022 aus allen Schulformen und Regionen des Landes, die seither untersucht worden sind. Die Forschungsfragen waren umfassend. Untersuchungsgegenstände waren zum einen die institutionellen Vorgaben (Aufgaben, Materialien, Erwartungshorizonte), die Leistungen der Prüflinge, aber auch das Korrekturverhalten (Schwerpunkte, Entsprechung zu den Vorgaben).
Angesichts des begrenzten Zeitumfangs konzentrierten sich die Ausführungen auf wenige Ausschnitte aus der Fülle der Studienergebnisse. So stellten die Wissenschaftler zwischen Aufgabenstellung und Erwartungshorizont sowohl Passungen als auch Nicht-Passungen fest. Problematisch sei etwa die Zuweisung der Quellenkritik an den AFB I. Der Erwartungshorizont reduziere deren Komplexität deutlich. Zwar seien alle Aufgaben auf dasselbe Material bezogen, es gebe aber streng genommen keinen klaren historischen Sachverhalt, der den Aufgabenstellungen zugrunde liege. Daher stehe die Beschäftigung mit der Quelle isoliert dar. Positiv schätzte die Arbeitsgruppe die Materialauswahl ein. Allerdings fehle es an einer Berücksichtigung mehrerer Perspektiven. Anzustellende Vergleiche würden nicht hinreichend plausibel im Hinblick auf ihre Relevanz; es gebe kein übergeordnetes Klärungsinteresse. Die Aufgaben akzentuierten stark die sachverhaltsbezogenen Denkleistungen, während Gegenwartsbezüge und die narrative Kompetenz gar nicht angesteuert würden. Lehrkräfte würden heterogener bewerten, als es die von der Arbeitsgruppe selbst ermittelten Analyseergebnisse nahelegten.
Insgesamt erkannte man daher, dass der Fokus der untersuchten Abiturarbeiten auf der Nennung historischer Sachverhalte und damit auf der Reproduktion gelegen habe. Ihnen wohne insofern eine Tendenz zur Unterforderung durch Komplexitätsreduktion und Anspruchsvermeidung inne.
Dennoch fanden sich auch Arbeiten, die ihre Verfasser als „junge Historiker“ auswiesen, die also eine Fülle an Kompetenzen nachzuweisen imstande waren.
Eine schriftliche Dokumentation der Ergebnisse steht noch aus. Mit Sicherheit werden sie noch viel Gesprächsanlass geben und man darf gespannt sein, welche Folgerungen daraus gezogen werden.

Anstelle der sonst üblichen Workshops hatte sich der Vorstand diesmal dafür entschieden, auch am Nachmittag einen Vortrag vorzusehen. Der Grund dafür ist das herausfordernde Semesterthema „Jüdisches Leben in Deutschland im langen 19. Jahrhundert“, das vielen Lehrkräften Respekt abnötigt. Referentin war die Braunschweiger Historikerin Professorin Dr. Simone Lässig. Ihr Vortrag trug den Titel „Die Verbürgerlichung der deutschen Juden im 19. Jahrhundert“ und enthielt damit die Hauptthese ihrer 2003 abgeschlossenen, mit dem Carl-Erdmann-Preis ausgezeichneten Habilitationsschrift, die auch als Digitalisat zugänglich ist.
Lässig skizzierte zunächst die Ausgangslage der deutschen Juden vor dem Beginn ihrer Emanzipation ab dem Ende des 18. Jahrhunderts. Das Judentum sei zu dieser Zeit nicht bürgerlich, sondern eine „diasporische“ Kultur am Rande der Gesellschaft gewesen. Die aschkenasischen Juden bedienten sich der jiddischen, mit dem Deutschen verwandten Sprache. Hebräisch fungierte als Gelehrtensprache. Juden waren immer eine prekäre Minderheit am Rande der ständischen Ordnung, die dann im Zuge der Verstaatlichungsprozesse des frühneuzeitlichen Fürstenstaates in ihrer Autonomie weiter eingeschränkt wurde. Dieser Prozess betraf nicht nur die Juden, bedeutete aber eine Einschränkung der Macht der Rabbiner. In ihrer großen Mehrheit seien Juden im 18. Jahrhundert arm gewesen und hätten vom Kleinhandel und der Bettelei gelebt. Das aschkenaische Judentum war vor allem ein ländlich-kleinstädtisches Judentum.
Mit Aufklärung und Haskalah hätten neue Vorstellungen von Religion und Wissen Einzug gehalten. Damit sei aber sogleich ein Fehlschluss, den man häufig in Schulbüchern findet, verbunden, denn nur wenige Juden partizipierten an der Haskalah – wie auch Christen an der Aufklärung. Die oftmals aufgerufene jüdische Salonkultur der Metropolen sei untypisch für die Masse der deutschen Juden, die in der Vorstellungswelt der Deutschen zumeist als Händler präsent waren.
Marksteine des jüdischen Aufbruchs waren zum einen die Toleranzpatente Josephs II., zum anderen Friedrich Wilhelm Dohms Denkschrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden von 1781. Sie setzen an drei Bezugsebenen an: Politisch-rechtlich sollten die Juden zu Staatsbürgern werden, ökonomisch sollten sie „ehrbare“ Formen des Erwerbs bzw. des wirtschaftlichen Handelns einschlagen. Dabei dachte man zunächst an Handwerk und Landwirtschaft – beides Sektoren, die wenig später in eine massive Krise gerieten. Daher zeigte diese berufliche Umorientierung keine Erfolge. Und drittens sollten sich die Juden auch kulturell in Richtung auf Bürgerlichkeit und Zivilität weiterentwickeln.
Einen deutschen Sonderweg der Emanzipation verneinte Frau Lässig. Das konditionale Vorgehen, das Leistung gegen Gegenleistung versprach, habe sich keineswegs nur auf die Juden erstreckt, sondern habe als Teil eines aufklärerischen Zivilisierungsdiskurses der Zeit sowohl für andere Bevölkerungsgruppen als auch in anderen Ländern gegolten. In Frankreich, wo den Juden die Bürgerrechte 1790 voraussetzungslos gewährt worden seien, habe sich später Enttäuschung über ihre Nichtangleichung an bürgerliche Standards gezeigt, die 1808 zum wiederum diskriminierenden décret infâme Napoleons geführt hätten. Die Erwartungshaltung ist also dem europäischen Raum gemeinsam.
Auch dass alle Juden den Wunsch gehabt hätten, sich zu integrieren, sei ein Fehlschluss. Stattdessen war dieser Prozess eine große Herausforderung für sie, dem sie keineswegs uneingeschränkt applaudierten, denn die Säkularisierung griff generell tief in ihre Lebenswelt ein. Auch dieser Prozess lief bei den Juden nicht anders ab als bei anderen Religionsgruppen.
Auf diese Herausforderungen fanden die Juden nun verschiedene Antworten. Zentral war die Neugründung von Frei- bzw. Reformschulen in Nord- und Mitteldeutschland. Sie lösten den alten, früh einsetzenden Thora-Unterricht ab. Sie wandten sich an Kinder aufgeklärter Eltern, aber auch von Bettlern und legten viel Wert auf die Verwendung der hochdeutschen Sprache, die damals auch von vielen Deutschen nicht im Alltag gesprochen wurde. Im Mittelpunkt dieser Schulen stand die realkundliche Bildung. Ziel war die Ausbildung selbstbewusster, kultivierter und moralischer Menschen. Diese Schulen trugen erheblich zur Formierung eines bürgerlichen Habitus und bürgerlicher Praktiken bei, wo zuvor nur das Befolgen religiöser Gesetze im Vordergrund gestanden hatte. Massive Autoritätskonflikte blieben dabei nicht aus: Einige Rabbiner wehrten sich gegen die neue Schulform, andere (vor allem in den Städten) ließen sie aber auch gewähren. In Deutsch-Österreich unterstützte der Staat solche Schulen und gliederte sie in das staatliche Schulwesen ein, in Galizien scheiterten sie hingegen am Widerstand der jüdischen Orthodoxie. Eine Musterschule der Reformbewegung war die von Israel Jacobson in Seesen gegründete. Obwohl es diesen Schulen oftmals nicht gelang, vermögende Eltern für ihren Ansatz zu gewinnen, sind sie nicht gescheitert, weil sie vielen armen Juden zum Aufstieg verhalfen. Sie prägten eine ganze Generation so, dass das Judentum Meisterdenker hervorgebracht hat. In christlichen Schulen gab es das selten.
Es kam zu einem neuen Verständnis von Religiosität, in dem das halachische, d.h. sich auf die jüdischen Religionsgesetze stützende, Judentum der Kritik unterzogen wurde. Religion wurde jetzt als moralischer Kompass vermittelt und es fand eine Verinnerlichung des religiösen Erlebnisses statt – ähnliche Entwicklungen gab es im Protestantismus (s. Schleiermacher). Damit einher geht eine Veränderung des Gottesdienstes, der traditionell eher ungeregelt, interaktiv und diskursiv war. Neue Elemente waren die Verwendung der deutschen Sprache und der Predigt im Gottesdienst, die Einführung der Konfirmation für Jugendliche sowie disziplinierende Synagogenordnungen. Auch das äußere Erscheinungsbild der Rabbiner wandelte sich. Sie wirkten nun weniger fremdartig als zuvor.
Zogen somit Merkmale von Bürgerlichkeit in der Synagoge ein, so fand zugleich eine Verbürgerlichung umgekehrt auch durch die Religion statt. Dabei sind deren Ergebnisse kein spezifisch jüdisches Phänomen. Sowohl christliche als auch jüdische bürgerliche Männer entfremdeten sich in zunehmendem Maße ihrer Religion. Darum richtete sich das Reformjudentum auch speziell an Frauen: Die deutsche Sprache ermöglichte es ihnen, die kein Hebräisch lernten, am Gottesdienst teilzunehmen. Auch die Reformschulen nahmen weibliche Schülerinnen auf und bereiteten diese Frauen auf ihren Platz in der bürgerlichen Gesellschaft vor.
Der Gottesdienst insgesamt wurde als eine Zeremonie wahrgenommen, die dazu diente, die Gemeinde auf gemeinsame Werte, Praktiken und Gefühle einzuschwören. Ein Beweis dafür ist die Einführung der Konfirmation. Sie wurde bisher immer als Beweis einer Protestantisierung des Judentums gesehen. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass auch in den protestantischen Kirchen erst im 19. Jahrhundert die Konfirmation wieder auflebt. Auch hier zeigt sich, dass Judentum und Christentum vom gleichen Zeitgeist erfasst wurden.
Insofern sah Frau Lässig die üblichen Konzepte von Assimilation und Akkulturation äußerst kritisch, denn durch sie übersehe man leicht, was in anderen Bereichen der Gesellschaft passiere, die ebenfalls Entwicklungen durchliefen und keinen feststehenden Zielpunkt der Entwicklung darstellten. Es gab im 19. Jahrhundert keine festgefügte kulturelle Norm, an die sich die Juden hätten anpassen können. Die vermeintlich jüdische Verbürgerlichung war in diesem Fall also nicht auf das Judentum beschränkt. Das gilt auch für die Emotionalisierung und die Sozialdisziplinierung durch die Synagogenordnungen. Das lauschende, aufmerksame und insofern ruhige Publikum war insgesamt eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Frau Lässig schlug vor, den Begriff „Transkulturation“ zu verwenden oder von kultureller Übersetzung zu sprechen, um den ständigen Austauschprozess zu beschreiben, in dem die Juden nicht nur empfingen, sondern auch kontinuierlich selbst prägten.
Einfacher fassbar ist hingegen die Entwicklung einer deutsch-jüdischen Öffentlichkeit. Sie ist an Zeitschriftengründungen nachweisbar. Auch orthodoxe Zeitungen erschienen jetzt auf Deutsch, wie überhaupt das Reformjudentum auch das orthodoxe Judentum beeinflusste, bis in das Erscheinungsbild des Rabbiners, der auch in seiner orthodoxen Variation den Habitus und das Aussehen eines gebildeten Priesters annahm.
Die Reformer waren noch bis in die Vierzigerjahre des 19. Jahrhunderts in der Minderheit. Dabei lief es auf eine Individualisierung und Pluralisierung des Judentums hinaus, mit der die traditionellen rabbinischen Autoritäten an Bedeutung verloren. Neben sie traten Prediger und ein neuer Typus des Rabbiners. Ferner entstand eine Wissenschaft vom Judentum (Leopold Zunz). Die Konfliktlinien verschoben sich insofern in Richtung auf die innerjüdische Ausdifferenzierung der Reformbewegung und begründeten damit eine Vielfalt, die bis heute die jüdischen Gemeinden trennt. Unterschieden werden können eine (ggf. moderne) Orthodoxie (Samson Raphael Hirsch), ein positiv-historisches/konservatives Judentum (Zacharias Frankel), das liberale Judentum (Abraham Geiger) und eine radikale Reformbewegung (Samuel Holdheim). Die jüdische Transformation war insofern keine lineare Fortschrittsgeschichte, sondern von heftigen Konflikten begleitet.
Am Ende waren Bürgerlichkeit und Judentum verschmolzen. Antisemitismus und Emanzipation spielen überraschenderweise in Ego-Dokumenten der Zeit nur eine geringe Rolle. Prächtige, riesige Synagogenbauten in großen Städten waren der Beleg für die Zugehörigkeit zum Bürgertum und ein gestiegenes Selbstbewusstsein. Sie vermittelten optimistisches Zukunftserwartungen. Die Juden, das brachten sie zum Ausdruck, waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine prekäre Minderheit mehr. Sie hatten sich dank ihrer eigensinnigen Aneignung der „bürgerlichen Verbesserung“ von einer prekären zu einer privilegierten Minderheit entwickelt, die im Kaiserreich die Chancen innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft nutzen sollte. Antisemitismus und Nationalismus waren eine Reaktion auf ihren sozialen Aufstieg.
Frau Lässig warnte vor den allfälligen Verzerrungen der deutsch-jüdischen Geschichte. Sie entstünden, wenn man die jüdischen Eliten und das jüdische Bürgertum als alleinige Referenzgruppen heranziehe, wenn Integration als Defizitdiskurs verstanden werde und wenn die deutsch-jüdische Geschichte nur vor dem Hintergrund von Sonderweg und Holocaust gesehen werde, sodass jüdische und allgemeine Geschichte zu wenig verzahnt würden. Jüdische Geschichte müsse als Teil der allgemeinen deutschen Geschichte gelesen werden.
In der Diskussion grenzte sie sich abermals deutlich von Konzepten wie „Assimilation“ und „Akkulturation“ ab. Passender schien ihr der Begriff „Transkulturation“.

Auf der abschließenden Mitgliederversammlung wurden alle Mitglieder des Vorstandes in ihren Ämtern bestätigt.

Johannes Heinßen/Christina Kakridi

Programm:

9.15 – 9.45 Uhr
Ankunft, Kaffee, Verlagsstände

9.45 – 10.00 Uhr
Begrüßung

10.00-11.15 Uhr
Professor Dr. Oliver Janz (Berlin)
Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive

11.30-12.45 Uhr
Professor Dr. Meik Zülsdorf-Kersting u. a. (Hannover)
Vorstellung von Ergebnissen einer wissenschaftlichen Auswertung des niedersächsischen Zentralabiturs

12.45 – 14.30 Uhr
Mittagspause

14.30 – 15.45 Uhr
Professorin Dr. Simone Lässig (Braunschweig)
Die Verbürgerlichung der deutschen Juden im 19. Jahrhundert

16.00 – 17.00 Uhr
Mitgliederversammlung des NGLV mit Wahlen