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Jahrespreis 2022 der Henning von Burgsdorff Stiftung zur Förderung des Geschichtsunterrichts verliehen

Nachdem die Henning von Burgsdorff Stiftung zur Förderung des Geschichtsunterrichts ihren Jahrespreis für Geschichtslehrkräfte erstmals mit einem Abstand von zwei Jahren ausgeschrieben hatte, waren acht überwiegend qualitativ überzeugende Bewerbungen eingegangen, die im Dezember 2022 im Rahmen der Kuratoriumssitzung besprochen wurden. Im Ergebnis wurde zwei von ihnen ein Jahrespreis zuerkannt.

Mit einem ersten Preis zeichnete das Kuratorium Lena Gottwald, Ulf Rosenfeld und Dr. Britta Wehen-Peters für ihr Projekt „Erinnerungsgang Oldenburg 2021 am Gymnasium Eversten“ aus.

Ausgang des Projekts war die Aufgabe für das Gymnasium Eversten, den seit 1982 jährlich am 9. November stattfindenden Erinnerungsgang auf der Strecke, den jüdische Oldenburger von der Polizeikaserne zum Gerichtsgefängnis gehen mussten, mitzugestalten. Ein aus den drei Kolleginnen und Kollegen bestehendes Organisationsteam übernahm diese Aufgabe und entwickelte ein Konzept, bei dem die inhaltliche Auseinandersetzung im Vordergrund stehen sollte. Es sollte deutlich über normative Vorgaben hinausgehen und vor allem oberflächliche und rein moralisierende Bekundungen vermeiden. Die historischen Ereignisse sollten für sich sprechen und eigene Beurteilungen ermöglichen. Nicht nur die Fachgruppe Geschichte, sondern möglichst alle Fachgruppen und Jahrgänge der Schule sollten daran beteiligt sein und der aktiven Gestaltung durch Schülerinnen und Schüler maß man eine hohe Bedeutung zu.

Die didaktischen Leitlinien sahen eine perspektivisch breite Aufstellung vor. Jüdisches Leben sollte in seiner gesamten Vielfalt und nicht nur reduziert auf die Opferrolle bzw. die Zeit zwischen 1933 und 1945 wahrgenommen werden, jüdische Biographien sollten rekonstruiert werden, die Identifikation mit der Stadtgeschichte sollte erhöht und das Reflexionsvermögen der Schülerinnen und Schüler gestärkt werden. Zu Beginn des Schuljahres 2020/21 startete eine erste Arbeitsgemeinschaft für Schülerinnen und Schüler und das Organisationsteam übernahm die Kommunikation innerhalb des Kollegiums und mit außerschulischen Partnern wie dem Kulturbüro der Stadt Oldenburg, der jüdischen Gemeinde oder der Landesbibliothek. Für den Erinnerungsgang 2021 wurde von den Schülerinnen und Schülern das Motto „Mehr als nur ein Stern“ erarbeitet, ein passendes Logo erstellt. Weitere Ergebnisse waren eine Ausstellung zu jüdischen Familiengeschichten, die auch die Ereignisse der Pogromnacht 1938 aufgriffen, die Familien aber als Teil der Oldenburger Gesellschaft porträtierte und um Aspekte zur allgemeinen jüdischen Kultur und Geschichte erweiterten. Ebenso wurden hier und in der katholischen Gemeinde St. Stephanus Produkte der künstlerischen Auseinandersetzung ausgestellt. Ein unter dem Motto veröffentlichter elfteiliger Podcast behandelte das Thema unter unterschiedlichen, für verschiedene Jahrgänge geeigneten Fragestellungen und erklärte für das jüdische Leben zentrale Begriffe. Und schließlich fand am 8.11.2021 ein „Kultureller Abend“ im Gymnasium Eversten statt, in dem die Erinnerungen eines Oldenburger Holocaust-Überlebenden vorgestellt wurden. Die Präsentation wurde von Klezmer-Musik eingerahmt. Darüber hinaus wurden zusätzliche Informationsangebote der Arolsen Archives eingebunden, deren Wanderausstellung das erste Mal auf einem Schulgelände gezeigt wurde. Zwei Monate nach dem Erinnerungsgang fand eine Abschlussveranstaltung statt, auf der mehrere aufwändige Filmdokumentationen der einzelnen Projektbausteine präsentiert wurden, die zwei Schüler in Zusammenarbeit mit einem Lokalsender erstellt hatten. Am Gesamtprojekt beteiligte Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte reflektierten außerdem in kurzen Interviews ihre Erfahrungen.

Die Bewerbung der Oldenburger Lehrkräfte legt die didaktische Planung, Durchführung und Reflexion sorgfältig dar und dokumentiert auch die gelungene Förderung des Geschichtsbewusstseins auf Seiten der beteiligten Schülerinnen und Schüler durch eine Umfrage. Aus einem Anlass, der auch pflichtgemäß und aufwandarm abzuhandeln gewesen wäre, ist dank des Engagements der drei Lehrkräfte, ein vielschichtiges erinnerungs­kulturelles Projekt vor Ort entstanden, das wichtige Facetten einer modernen Erinnerung an jüdisches Leben in Deutschland aufgegriffen und in vielfältiger und überaus gelungener Weise rekonstruiert und darstellt. Die Henning von Burgsdorff Stiftung zeichnet die drei verantwortlichen Lehrkräfte daher mit einem ersten Preis im Rahmen des Jahrespreises 2022 aus. Das Preisgeld beträgt 1.000,- Euro.

Mit einem zweiten Preis in Höhe von 500,- Euro zeichnete das Kuratorium Dr. Thomas Droste, Lehrer an der Oberschule Seesen, für sein langjähriges Engagement im Rahmen des Gedenkstättenprojekts der Oberschule Seesen mit einem zweiten Preis aus.

Ausgezeichnet wird Dr. Droste für die Entwicklung und regelmäßige Durchführung eines Gedenkstättenprojekts an der Oberschule Seesen. Aus der Frage eines Schülers anlässlich der Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung, ob man nicht nach Auschwitz fahren könne, hat Herr Dr. Droste seit 2015 ein regelmäßiges Projekt entwickelt, in dessen Zentrum jeweils eine viertägige Gedenkstättenfahrt in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz steht. Darüber hinaus entsteht ein jährlich variiertes Begleitprogramm, in dem jüdische Geschichte vor Ort anhand der Rekonstruktion von Biographien von Seesener Juden erforscht wird und Zeitzeugengespräche mit Überlebenden von NS-Konzentrationslagern geführt werden. Dabei dienten wiederholt Informationen, die in Auschwitz und anderen Archiven eingeholt wurden, zur Erforschung der jüdischen Geschichte in Seesen. Aus den jährlichen Projekten sind verschiedene Produkte entstanden, so unter anderem die Publikation biographischer Informationen zum Leben Seesener Juden, Leserbriefe zu erinnerungskulturellen Themen, die Rekonstruktion eines Todesmarsches sowie der Film „Das Tschland-Mal von Seesen“ über den bereits 1945 errichteten und danach vergessenen Gedenkstein für 23 unbekannte Tote aus dem letzten Räumungstransport aus dem KZ Mittelbau-Dora. Der Film setzt sich mit der Geschichte der Aufarbeitung des NS-Unrechts und der daraus hervorgegangenen Verbrechen auseinander. 2022 schließlich konnten bislang unbekannten Opfern im Massengrab auf dem Friedhof in Münchehof-Seesen drei Namen zugeordnet werden. Die Seesener Schülerinnen und Schüler übernahmen die Gestaltung der Gedenkfeier, die in Anwesenheit von Angehörigen der drei Franzosen Auguste Barray, Maurice Cordier und André Gagneux stattfand. So wirken die Schulprojekte unmittelbar in die lokale Erinnerungskultur Seesens hinein und tragen zur Wiedergewinnung der Opfernamen bei. Wie nachhaltig die durchgeführten Projekte auf die Teilnehmenden wirken, zeigt sich daran, dass Teilnehmer an Projekten vergangener Jahre regelmäßig an den Präsentationen von Nachfolgeprojekten anwesend sind.

Bereits in seiner ersten Auflage 2015 erhielt das Projekt den Jugendförderpreis des Landkreises Goslar sowie einen ersten Platz beim Schülerfriedenspreis des Landes Niedersachsen. Der Film über das „Tschland-Mal“ wurde 2020 vom NDR und der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten im Rahmen des Wettbewerbs „Befreit! Und dann?“ ausgezeichnet. Das Kuratorium der Henning von Burgsdorff Stiftung zur Förderung des Geschichtsunterrichts möchte nunmehr das langjährige Engagement des Projektverantwortlichen auszeichnen. Hervorzuheben sind die didaktische Passung seines Konzepts für eine Oberschule, an der historische Bildung von solcher Eindringlichkeit und Anschaulichkeit keineswegs selbstverständlich ist. Die langjährig durchgeführten Projekte ermöglichten einer großen Zahl an Schülerinnen und Schülern den Erwerb eines vertieften Geschichtsbewusstseins. Die hohe Zahl freiwilliger Teilnehmerinnen und Teilnehmer weist auf die hohe Attraktivität unter den Adressaten hin; die vielfältigen Produkte, die aus der Projektarbeit hervorgegangen sind, nahmen in vorbildlicher Weise Einfluss auf das Geschichts­bewusst­sein in der Stadt Seesen und erbrachten bedeutende neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die insbesondere über die Fernsehbeiträge im NDR einer größeren Öffentlichkeit zur Kenntnis gelangten. Das Projekt verkörpert insofern beispielhaft die Möglichkeit, auch aus der Schule heraus Einfluss auf das Geschichtsbild vor Ort zu nehmen.

Johannes Heinßen