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Stellungnahme zur Anhörfassung des KC Gesellschaftslehre, Sommer 2019

Im Sommer 2019 gab das Niedersächsische Kultusministerium eine weiterentwickelte Fassung des Kerncurriculums Gesellschaftslehre in die Anhörung. Hierzu hat der NGLV eine ausführliche Stellungnahme abgegeben. Sie bezieht sich im Wesentlichen auf die Rolle der historischen Bildung in diesem Lehrplan, würdigt aber auch grundsätzliche Richtungsentscheidungen der neuen Fassung, vor allem die erkennbare Rückabwicklung der Kompetenzorientierung.

Die vorliegende Anhörfassung des Kerncurriculums für das Fach Gesellschaftslehre an Integrierten Gesamtschulen reagiert zwar auf aktuelle praktische und schulorganisatorische Probleme des Gesellschaftslehreunterrichts, stellt aber didaktisch und inhaltlich einen erheblichen Rückschritt gegenüber dem geltenden Kerncurriculum dar. Mit Ausnahme der praktischen Handhabung durch fachfremd unterrichtende Kolleginnen und Kollegen wirft es auf mehreren Betrachtungsebenen erhebliche Fragen und Kritik auf. Es sollte
daher unserer Ansicht nach in dieser Form nicht in Kraft treten. Angesichts der Vielzahl gravierender Mängel scheint es fraglich, ob eine Einarbeitung der aufgeführten Monita möglich ist. Daher sollte eine völlige Neuerarbeitung erwogen werden, die sich um eine stärkere inhaltliche Ausgewogenheit und Offenheit zu bemühen hätte. Insbesondere das Gerüst der strukturierenden Aspekte und der daraus abgeleiteten Leitfragen sollte einer Revision unterzogen werden.
Einem ausführlichen kritischen Kommentar der vorliegenden Anhörfassung stellen wir unsere Kritik thesenartig voran.

1. Die vorliegende Fassung stellt kein Kerncurriculum, sondern einen Lehrplan dar. Das erleichtert zwar fachfremden Kolleginnen und Kollegen die Arbeit, wird aber den Erwartungen an ein Kerncurriculum in keiner Weise gerecht.

2. Die Ersetzung von Kompetenz- durch Lernzielformulierungen läuft der Entwicklung der letzten KC-Generationen komplett zuwider, ja sie ist eine Rolle rückwärts.

3. Das konkretisierte, zum Lehrplan ausgearbeitete Kerncurriculum bevormundet Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler aufgrund der (unnötigen) Konkretion seiner Vorgaben.

4. Das im Bildungsauftrag und in den Leitfragen entworfene Weltbild ist unausgewogen, einseitig und verzerrt. Dies zeigt sich unter anderem an der Auswahl der strukturierenden Aspekte.

5. Das Ziel, die Anknüpfung an den Fachunterricht der gymnasialen Oberstufe zu verbessern, wird in keiner Weise erreicht. Vom Ziel, die Lernenden auf den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe vorzubereiten, ist diese Fassung weiter entfernt denn je.

Kerncurriculum oder Lehrplan?
Die Weiterentwicklung des KC Gesellschaftslehre steht in Teilen in der Kontinuität der Vorläuferfassung. Klar arbeitet die vorliegende Anhörfassung die dem Gesellschaftslehreunterricht zugrunde liegenden Prinzipien heraus. Sie setzt auf eine verstärkte Integration der drei zuliefernden Fächer, baut sie weiter aus und reformuliert fachliche Aspekte in einer noch stärker didaktisch ausgerichteten Art und Weise in Form von Leitfragen (völlig richtig dargestellt auf S. 9, Absatz 2). Sie ersetzen die bisherigen Lernfelder.
Diese Veränderung dürfte einerseits für die planenden Kolleginnen und Kollegen, insbesondere für diejenigen, die die Inhalte fachfremd  unterrichten müssen, hilfreich sein, da die entstandenen Matrizes der Leitfragen leicht in Unterrichtsplanungen umzusetzen sein sollten. Andererseits handeln sich die Verfasserinnen und Verfasser auf diese Weise eine Kanondebatte ein. Denn die Detailliertheit der  thematischen (nicht nur: der inhaltlichen) Vorgaben sowie ihre Ausarbeitung bis ins Detail entsprechen eigentlich nicht der Aufgabe
eines Kerncurriculums, ja sie werden von Lehrkräften mit der entsprechenden Fakultas als unzulässige Bevormundung empfunden werden. Hier wird von oben dekretiert, welche Fragen die Lernenden bewegen (oder wohl eher: zu bewegen haben). Eigentlich handelt es sich also um einen Lehrplan alter (d. h.: veralteter) Schule.
Dafür spricht auch, dass es mit Ausnahme der Arbeitstechniken (S. 13) keine separat ausgewiesenen Kompetenzen gibt, sondern die „Kompetenzen“ in den Matrizes der einzelnen Leitfragen ab S. 14 aufgeführt werden. Verklausuliert wird der gänzliche Verzicht auf eine
Kompetenzsystematik, wie sie das derzeit geltende KC Gesellschaftslehre erfolgreich umsetzt, auf S. 12, Absatz 2 auch eingeräumt. Selbst die oberflächliche Kenntnis der Kompetenzdiskussion sollte gewährleisten, dass es sich bei den als Kompetenzen ausgewiesenen Formulierungen praktisch in keinem Fall um Kompetenzen handelt, sondern um Lernzielformulierungen, da hier Inhalte (Wissen) und  Kompetenzen (Fähigkeiten, Fertigkeiten) zusammengeführt wurden. Dies entspricht wiederum der erkennbaren Absicht, Planungshilfen bereitzustellen, verdient dann aber den Namen eines Kerncurriculums nicht.
Aktualitätsbezüge und andere Rücksichtnahmen auf die Besonderheiten der Lerngruppen, für die ein Kerncurriculum hinreichend Elastizität besitzt, werden dadurch ungemein erschwert. Wenn die bisherige Kompetenzsystematik durch eine inhaltliche Gliederung ersetzt wird, stellt sich daher die Frage, ob die Kommission hier den stillschweigenden Abschied von der Kompetenzorientierung, die Ergebnis eines längeren Entwicklungsprozesses ist, der in den letzten Curricula-Versionen erkennbar ist, vollziehen möchte. In jedem Fall stellt die Systematik der Anhörfassung einen erheblichen Rückschritt gegenüber dem geltenden KC, das unter 3.1 und 3.2 die prozessbezogenen Kompetenzen klar differenziert (Orientierungskompetenz, Urteilskompetenz, Handlungskompetenzen) dar. Das muss den Autorinnen und  Autoren bewusst sein und wird länderübergreifend als bildungspolitisches Signal nicht unbemerkt bleiben, ja als Scheitern dieser Spielart  der Lehrplangestaltung im Gesamtschulbereich aufgefasst werden. Fachdidaktisch ist diese Rückabwicklung jedenfalls nicht zu begründen. Wie es zu diesem unerwarteten Strukturwandel im KC-Aufbau kommt, sollte im Sinne der Transparenz zumindest ausführlich erklärt werden. Freuen werden sich in jedem Fall die Schulbuchverlage, denen die Inhaltsverzeichnisse auf diese Weise schon fertig vorgelegt werden.

Die Bildungsziele des Faches Gesellschaftslehre – zu Kapitel 1 (Bildungsbeitrag)

Der Bildungsbeitrag thematisiert, offensichtlich im Sinne der Schülerorientierung, ausschließlich Figuren des Wandels, des Umbruchs und des Konflikts. – Warum sollen Schülerinnen und Schüler der IGS nichts von Kontinuitäten erfahren? Besteht ihre Lebenswelt nur aus Zäsuren oder gibt es nicht auch stabilisierende Momente, die ihnen Orientierung und Halt verschaffen können und damit vorzüglich zur Herausbildung einer eigenen „Wert- und Handlungsorientierungen“ (S. 5, Absatz 1) beitragen? Besteht die Lebenswelt ferner vorrangig aus Konflikten? Baut sie nicht, gewiss weniger spektakulär, aber für die Lebensqualität zentral, zum großen Teil auf stabilen sozialen und kulturellen Bindungen auf, derer zu vergewissern es sich lohnt, die sich in der Zeit verändern, aber so langsam, dass es bisweilen kaum merklich ist? Hier sollte die Beschreibung der Ausgangssituation jeweils ausgewogener erfolgen – und das gewiss fächerübergreifend. Der perspektivische Zugriff, den der Bildungsauftrag wählt, ist jedenfalls geeignet, die Orientierungsprobleme Jugendlicher eher zu verschärfen als sie abzufedern, weil er nicht signalisiert, dass dauerhafte Werteordnungen, z. B. die inzwischen jahrhundertealte Kontinuität von Grundrechtsvorstellungen, ein belastbares Fundament für das Ertragen und Verarbeiten von Veränderung darstellen können. Orientierung erfolgt auch in der Zeit und über Zeiterfahrung. Auch diese Art Orientierung ist Bedingung für Mündigkeit, findet in der vorliegenden  Fassung aber keine Berücksichtigung, obwohl es sich um eine Grundfigur des Geschichtsbewusstseins handelt. In seiner handlungsorientierten „Dramatisierung“ der Lebenswelt der Lernenden findet (positive) Orientierung in der Zeit zum Zwecke des Identitätsaufbaus also zu wenig statt.

S. 5, Z. 9 f.: Problematisch ist die Trennung von Politik und Gesellschaft. Ist Politik kein Teil von Gesellschaft? Hier kann beim Leser der Eindruck entstehen, dass Politik bzw. die Politiker als der Gesellschaft enthobene Gruppe aufgefasst wird/werden. Das ist die – hier gewiss nicht gewollte – Argumentation von Populisten. Vor allem aber entspricht die Dichotomie nicht dem Stand der Wissenschaft. Daher sollte Gesellschaft zumindest klar als Oberbegriff gekennzeichnet sein. Alternativ bietet sich hier der moderne, extensive Kulturbegriff an. Er ist zwar diffus, aber ungefährlich und weithin akzeptiert.

S. 5, Absatz 3, Z. 5: Die Verwendung des Begriffes Multiperspektivität ist didaktisch unzulänglich. Multiperspektivität allein kann keine „inhaltliche Tiefe“, das soll hier wohl heißen: eine Werthaltung oder ein Urteil generieren. Darum geht es hier aber. Über multiperspektivische Erfahrungen gelangen die Lernenden zur Einsicht, dass es verschiedene Möglichkeiten der Beurteilung und Bewertung gibt. Durch deren Vergleich erfahren sie, dass es zur Formulierung von Urteilen bestimmter Kriterien bedarf, die möglichst offengelegt werden sollten. Der Satz in seiner jetzigen Gestalt reproduziert die Fehler zahlreicher Unterrichtsstunden, die sich mit Multiperspektivität zufrieden geben („Die eine sieht es so, die andere so.“), aber nicht zum kriteriengestützten Urteil vordringen, sondern es bei vordergründiger Offenheit belassen („Es muss ja jeder selbst wissen, was richtig ist.“). Bliebe es bei einer solchen Multiperspektivität, würde allein die orientierungsbedürftige Lebenswelt der Lernenden im Unterricht rekonstruiert. Mündigkeit kann so nicht entstehen; qualitativ anspruchsvoller Unterricht ebenfalls nicht.

Aus der Perspektive der historischen Bildung ergeben sich einige Gravamina, die im Folgenden dargelegt werden sollen. Ausdrücklich aussparen möchten wir hier das Insistieren auf vermeintlich unverzichtbaren Wissensinhalten. Im Vergleich der Kerncurricula von Gymnasium und IGS wird deutlich, dass man die verbindlich zu behandelnden Inhalte der Domäne Geschichte in der vorliegenden Fassung wohl lediglich als rudimentär bezeichnen kann. Der Stellenwert der historischen Bildung ist in der vorliegenden Fassung jedenfalls nicht verbessert worden.

Unsere Einwände hängen im Wesentlichen mit den vom NGLV beständig wiederholten Bedenken gegen die im Rahmen der Fächerintegration stattfindende Entfachlichung des Unterrichts zusammen, unter der der Kompetenzaufbau aller drei betroffenen Denkstile/Fächer (Erdkunde, Geschichte, Politik/Wirtschaft) massiv leidet, was durch das geringere Stundendeputat des  Gesellschaftslehreunterrichts gegenüber dem Fachunterricht am Gymnasium noch verschärft wird.

Zu Kapitel 2 (Kompetenzorientierter Unterricht)

Die strukturierenden Aspekte, prinzipiell ein sinnvoller Zugriff zur inhaltlichen Erschließung der Inhalte und in der aktuellen Version des KC vorbildlich eingeführt, sind in ihrer Struktur nicht unproblematisch, weil sie systematisch völlig disparat sind. Reine Gegenstandsbereiche (Medien/Kommunikation) stehen neben Kategorien (Ungleichheit) und normativen Vorstellungen (Nachhaltigkeit). Sie greifen die Tendenz des Bildungsauftrages auf, aktuelle politische Handlungsfelder anzusteuern, ohne stabilisierende Phänomene langer Dauer in den Blick zu nehmen. Es ist zwar klar, dass hier immer Kompromisse zu schließen sind und sie niemals wissenschaftlichen Ansprüchen standhalten können. Es fehlt jedoch an einer ausführlichen Erläuterung der fünf Aspekte, die ihre Auswahl und Kombination begründen könnte. In der vorliegenden Form wirkt ihre Setzung daher willkürlich – jedenfalls „bilden [sie] sich“ (S. 7) gewiss nicht von allein heraus.

Ein paar Anfragen zur vorgenommenen Auswahl:

  • Warum wird dem Aspekt der Ungleichheit der Vorrang vor der Unfreiheit gegeben?
    Der Freiheitsbegriff taucht zwar in einigen Komposita, aber überhaupt nicht als historische Errungenschaft der westlichen Welt auf. Herrschafts- und Wirtschaftsformen generieren jedenfalls nicht nur (Un)gleichheit, sondern vorzugweise (Un)freiheit. Diese Akzentuierung lässt die Tendenz zu einer Beschreibung der gesellschaftlichen Realität erkennen, die eine bestimmte politische Lesart eindeutig favorisiert. Hier wären im Sinne des Beutelsbacher Konsenses beide Kategorien zur Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit gleichberechtigt nebeneinander vorzusehen.
  • Ähnlich: Sind Grundwerte allein in ihrer sozialen Funktion zu betrachten? Haben sie nicht auch eine (individual)ethische Komponente, die in den Grund- und Menschenrechten im 18. Jahrhundert angelegt wurde?
  • Wo bleibt angesichts der vielfältigen Berufung auf Lebenswelt und Handlungsorientierung der (in den KC Sek I des Gymnasiums und der gymnasialen Oberstufe vorhandene) Aspekt der Transkulturalität? Er dürfte doch der Alltagserfahrung der Schülerinnen und Schüler massiv entsprechen. Im gesamten KC fehlt der Begriff. So kommt es, dass ein lebensnahes Beispiel von Kulturverflechtung und friedlicher transkultureller Interaktion, der interkulturelle Austausch von Esskulturen, im Zeichen einer Konfliktlösung erfasst wird (S. 14), obwohl die Vielfalt der Esskulturen doch gerade ein wunderbares Beispiel für völlig friedliche, allerseits begrüßte Wechselwirkung transkulturellen Austausches ist.
  • Das Christentum, unbezweifeltes Fundament der westlichen, europäischen Kultur und ihrer Wertvorstellungen, taucht in der Anhörfassung ausschließlich in Form des „christlichen Fundamentalismus“, der mit dem Salafismus verglichen werden soll, auf.
    Wiederum werden nur einseitig konfrontative, extrem(istisch)e Aspekte ausgewählt. In Leitfrage 8–4 wird Religion einseitig als Konfliktursache bestimmt, obwohl alle genannten Konflikte ebensogut auch durch andere, nichtreligiöse Ursachen erklärbar
    sind. Religion wird so zur veralteten mentalen Konstitution, die es zu überwinden gilt. Religionsfreiheit ist zu gewähren, aber ansonsten habe Religion nur geschadet. – Das ist eine eher ideologische Position, die durch die historische Kulturwissenschaft inzwischen vielfach widerlegt worden ist. Dass Religion sehr wohl im positiven Sinne zu einer „Wert- und Handlungsorientierung“ (S. 5) beitragen kann, wird gar nicht erwogen. Auch wenn es angesichts der Zeitnot sinnvoll und nachvollziehbar ist, gewisse Inhalte ins KC Religion auszugliedern, besteht hier eine erhebliche inhaltliche Lücke. Es erstaunt, dass der integrative Ansatz des Faches Gesellschaftslehre auf dem Gebiet der religiösen Grundlagen unserer Kultur massiv unterlaufen wird
  • Der Bereich der mittelalterlichen Geschichte wird den Schülerinnen und Schülern der Integrierten Gesamtschule weitgehend vorenthalten, obwohl das Mittelalter regelmäßig Gegenstand des Geschichtsunterrichts in der gymnasialen Oberstufe ist. Als Beispiel für eine damit verbundene, gravierende Lücke könnte man das völlige Fehlen des Begriffs „Adel“ anführen, der als historische Konstante die europäische Geschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein prägt, aber nirgends auftaucht.Ehrlicherweise sollte auf die Verwendung des bestimmten Artikels auf S. 9, Z. 7 verzichtet werden. Das vorliegende KC greift gewiss Inhalte der drei Fächer auf, mitnichten aber die Inhalte.

Zu Kapitel 3 (Erwartete Kompetenzen)

Die Probleme der Kompetenzsystematik wurden oben bereits im Allgemeinen dargestellt. Es folgen noch einige Anmerkungen im Detail

Zu 3.1 Arbeitstechniken (S. 13)

Darunter versteht man fachübergreifende Methoden, die im Wesentlichen die Selbstorganisation des Lernenden betreffen. Wenn nun allerdings (sehr reduzierte) methodische Kompetenzen des Geschichtsunterrichts (Quellenkritik) auf gleicher Ebene mit Rollenspielen und Präsentationen auftauchen, wird diese Fachmethode in ihrer Wertigkeit eindeutig unterschätzt. Wiederum ist auch hier die Zusammenstellung der aufgeführten Aspekte zu disparat und fachlich nicht haltbar. Die fehlende Kompetenzsystematik macht
sich hier negativ bemerkbar.
Der Quellenbegriff wird in diesem Abschnitt in seinen beiden Bedeutungen nicht deutlich unterschieden: Einerseits wird er historisch korrekt vom Darstellungsbegriff abgegrenzt, andererseits aber auf derselben Seite als – fachlich diffuser – Oberbegriff für Informationsmaterialien aller Art verwendet.
Warum spart die für Klasse 9/10 ausgewiesene Rekonstruktion die Quellen als Gattung aus? Hier wird ein zentraler Begriff der Geschichtsdidaktik verwendet, aber nicht fachspezifisch konkretisiert. Dafür sollen Quellen dann allerdings durchaus dekonstruiert
werden, obwohl sie doch vorrangig zur Rekonstruktion von Vergangenem dienen. Hier ist die Fachdidaktik der historischen Bildung unzulänglich erfasst und integriert worden.

Zu 3.2 Erwartete Kompetenzen (S. 14-37)

Dass fachliche Inhalte historischer Bildung nur fragmentarisch und quasi beliebig eingeflochten sind, wird zuverlässig eine Orientierung in der Zeit unmöglich machen. Historische Inhalte werden in nachgerade beliebiger Weise hier und da aufgegriffen und somit marginalisiert. Antike Hochkulturen etwa werden unter drei Leitfragen thematisiert. Wie Schülerinnen und Schüler auf diese Weise jemals ein Orientierungsgerüst, das gewiss eine Bedingung politischer Mündigkeit ist, aufbauen könnten, ist völlig unklar, auch wenn die Zuordnung der Inhalte zu den Jahrgangsstufen erkennen lässt, dass durchaus in Ansätzen chronologisch vorgegangen wird. Daher erhellt auch nicht, wie Zeitzeugenaussagen und Quellen dekonstruiert werden können (3.1). Dazu bedarf es eines Fundaments an Orientierung, das durch vorherige Rekonstruktion entstanden ist. Dieses wird jedoch über das gesamte Kerncurriculum hinweg gar nicht angestrebt. Beispielhaft zeigt sich das etwa in Leitfrage 5–3, in der verschiedene Epochen der Frühgeschichte (Neolithische Revolution, Altes Ägypten, unter einer anachronistischen Leitfrage zusammengefasst werden, ohne dass hier Orientierung in der Zeit – den Zeitstrahl als Standardform der Darstellung von Chronologie sucht man im KC vergebens – verlangt würde.
In Leitfrage 9–3 wird ein äußerst negatives Licht auf die Weimarer Republik geworfen. Hier gälte es, den Gefährdungen, die schließlich zu ihrem Scheitern führten, auch ihre Errungenschaften und Fortschritte im Hinblick auf die politische Freiheit, Gleichheit und Partizipation gegenüberzustellen, um eine ausgewogenere Beurteilung zu ermöglichen.
Nachgerade grotesk ist die in Leitfrage 10–1 geworfene Perspektive auf die Deutsche Einheit. Sie wird konsequent kritisch, ja negativ gesehen und im Hinblick auf die Defizite des Einigungsprozesses befragt. Das kann man tun, nachdem man die politische Dimension
der Wiedervereinigung (Freiheit für Ostdeutsche) gewürdigt hat. Dass dies nicht vorgesehen ist, ist wiederum Folge der einseitigen Ausrichtung der strukturierenden Aspekte (s.o.). Dass umgekehrt die Integrationskräfte ganz auf Europa projiziert werden, macht
wiederum deutlich, dass hier Inhalte, die nach dem Beutelsbacher Konsens offen und pluralistisch zu verhandeln wären, normativ einseitig angesteuert und daher tendenziös verengt werden. Das kann sich kein moderner Lehrplan leisten, zumal wenn er vielfach fachfremd, d.h. ohne souveräne fachliche Orientierung der Lehrkraft unterrichtet werden muss. Im bisherigen KC werden diese Punkte im Lernfeld „Herrschaft und politische Ordnung“ viel offener angesteuert (S. 20). Hier zielt die Urteilsbildung insofern auf Pluralismus ab – in der Anhörfassung keineswegs. Zugleich zeigen sich hier die Grenzen der gewählten Systematik. Angesichts einer Vielfalt unterschiedlicher Leitfragen ist es völlig klar, dass die strukturierenden Aspekte nur mehr oder weniger passend sind. Dass partout überall „Kompetenzen“ eingesetzt wurden, heißt, die Leitfragen auf ein Prokrustesbett zu zwingen. Ihnen wird durchgängig die einseitige Tendenz der strukturierenden Aspekte unterlegt. Das kann nicht gutgehen.
Kleiner Hinweis zu S. 37: Wenn das Ergebnis einer Erörterung feststeht („erörtern den Entwicklungsstand eines Landes als Folge ungleicher Entwicklung“), wird nicht erörtert, sondern lediglich beschrieben. Erörtert werden kann nur ergebnisoffen. Bei Operatoren des AFB III darf das Ergebnis nicht festgeschrieben sein.

Zu Kapitel 4 (Leistungsfeststellung und Leistungsbewertung)

Die Anhörfassung begrenzt den Anteil der schriftlichen Leistungen an der Gesamtnote auf ein Drittel. Das geltende Kerncurriculum eröffnet die Möglichkeit, deren Anteil höher zu gewichten. Angesichts der höheren Bedeutung der schriftlichen Leistungen in der gymnasialen Oberstufe wird Schülerinnen und Schülern, die den Übergang in die gymnasiale Oberstufe planen, ein Bärendienst erwiesen.
Das Problem des Übergangs zum Fachunterricht in der gymnasialen Oberstufe Zu Beginn des Schuljahres 2018/19 fanden in den vier Regionalabteilungen Dienstbesprechungen statt, an denen die Fachobleute Gesellschaftslehre der IGSen, die Fachmoderatorinnen und -moderatoren Gesellschaftslehre sowie die Fachberaterinnen und Fachberater der B-Fächer des Gymnasiums teilnahmen. Anlass waren die Herausforderungen, die sich für die IGSen durch den Umstand ergeben, dass der zeitliche Vorteil der IGSen durch die Wiedereinführung des G9-Abiturs auch an den Gymnasien entfalle. Die Fachberaterinnen und Fachberater machten in ihren Präsentationen durchweg deutlich, dass zur erfolgreichen Mitarbeit in der gymnasialen Oberstufe bereits im Gesellschaftslehreunterricht die fachlichen Aspekte der Fächer Erdkunde, Politik/Wirtschaft und Geschichte zumindest in den Jahrgängen 9 und 10 stärker angesteuert und vorbereitet werden sollten.
Die vorliegende Anhörfassung bemüht sich, dem in den Jahrgängen 9 und 10 durch die fachliche Zuordnung der Kompetenzformulierungen Rechnung zu tragen. Dabei erstaunt das gewählte Verfahren, die Kompetenzen der Oberstufencurricula als – für die Unterrichtsplanung zunächst unverbindliche – Zielperspektive aufzunehmen. (Eigentlich sollte der Haupttext eines KCs nur Verbindliches enthalten.) Zu bezweifeln ist indes, ob die gedachte Ausdifferenzierung fachspezifischer Kompetenzen in dieser Form bei den Lernenden Wirkung zeigen kann, da für sie weiterhin das Leitfragenprinzip im Vordergrund steht und sie für die fachliche Differenzierung nicht verbindlich sensibilisiert werden. Abhilfe könnte hier ggf. geschaffen werden, indem einzelne Unterrichtseinheiten und -module im Hinblick auf ihre fachliche Zuordnung transparent gemacht würden (z. B. durch Übernahme der Zuordnung in die Überschrift) und dann blockweise entsprechend den
fachlichen Standards des jeweiligen Faches gearbeitet würde (was indes die fachliche Expertise der Lehrkraft voraussetzt). In der vorliegenden Form wird die Anbahnung des nach Fächern differenzierten Unterrichts in der gymnasialen Oberstufe lediglich für die
planenden Lehrkräfte transparent. Daher sollte die Differenzierung nicht nur im Kerncurriculum (das Schülerinnen und Schüler in der Regel nicht zur Kenntnis nehmen), sondern auch im Unterricht selbst verbindlich deutlich werden. Nur so ließen sich die domänenspezifischen Merkmale und Fachmethoden der drei Fächer klären, differenzieren und schulen.

Probleme in der Lehramtsausbildung

Erhebliche Probleme würde die Abkopplung des Kerncurriculums Gesellschaftslehre auch in der Lehrerausbildung mit sich bringen. Immer mehr Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst für das gymnasiale Lehramt werden an Integrierten Gesamtschulen ausgebildet.
Würde sich das KC Gesellschaftslehre tatsächlich so weitgehend von den Kerncurricula Geschichte entfernen, müssten sie fortan zweigleisig ausgebildet werden, weil sie sich in zwei grundverschiedene Strukturen und Auffassungen über die Aufgaben eines Curriculums einarbeiten müssten. Dadurch wird wertvolle Zeit in der ohnehin zu knapp bemessenen Ausbildungszeit von 18 Monaten vergeudet, die besser der fachdidaktischen und fachmethodischen Ausbildung gewidmet werden sollte.
Als fakultativer Anhang zu einem Kerncurriculum, das fachdidaktisch zeitgemäß und inhaltlich ausgewogener gestaltet ist, könnten die aufwändig erarbeiteten Leitfragenmatrizes eine hilfreiche didaktische Konkretisierung darstellen und im Sinne von Vorschlägen
zur Unterrichtsgestaltung durchaus gute Dienste leisten.

Als PDF-Version finden Sie den Text der Stellungnahme HIER.