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Wie Geschichte die Gegenwart verstehbar machen kann

Volker Depkat erklärt das heutige Amerika aus seiner Gründerzeit heraus

Nicht alles auf dem 54. Deutschen Historikertag war für die teilnehmenden Geschichtslehrkräfte unverzichtbar. Wenn man alle paar Jahre aus dem schulischen Alltag ausbricht und versucht, an nur drei Tagen die Entwicklungen und Tendenzen der heutigen Geschichtswissenschaft nachzuvollziehen, um dies in der Unterrichtspraxis umzusetzen, kann das natürlich nur schlaglichtartig gelingen. Hochspannende Zugriffe sind darunter, etwa wenn die Quantifizierung von Bildung und ihre Messbarkeit durch das 20. Jahrhundert hindurch verfolgt werden oder die neuesten Forschungen zum Lehnswesen kompakt vorgestellt werden. Andere Sektionen blieben dagegen merkwürdig blass und wiesen 20 Jahre nach dem Ende der eigenen universitären Sozialisation wenig Fortschritt auf, ja sie wirkten angesichts der Immanenz und Zitatlastigkeit ihrer Vorträge bisweilen theoretisch und methodisch eher regressiv. Auch die Erkenntnis darüber, wie mit den praktischen Problemen der Künstlichen Intelligenz im Prüfungsalltag umzugehen sein könnte, hielt sich in Grenzen.
Wie gut, dass es daher am letzten Tag – die Fachwissenschaftler befanden sich bereits auf dem Heimweg – ein Programm eigens für Geschichtslehrkräfte gab, das Klett-Verlag und VGD gemeinsam organisiert hatten. Es umrahmte die Preisverleihung für den vom Klett-Verlag ausgeschriebenen Wettbewerb für junge Lehrkräfte. Deren Preisträgerinnen wurden geehrt und stellten ihre ebenso innovativen wie methodisch versierten Stundenentwürfe vor, die manchen Fachleiter neidisch machten, denn solche Referendarinnen hat man nicht jeden Tag.

Wie Geschichtslehrkräfte vom Historikertag profitieren könnten, zeigte bei dieser Gelegenheit nun beispielhaft der Regensburger Amerikanist Professor Dr. Volker Depkat. Mit seinem Vortrag über Fake News und Verschwörungstheorien in der Geschichte der USA verband er gleich zwei aktuelle Themen miteinander: die American Revolution, Gegenstand des niedersächsischen Oberstufenunterrichts und verbindlich in den Abiturprüfungen 2022-2024, und die politische Kultur der USA, die sich bekanntlich in den letzten Jahren vom leuchtenden Vorbild der Bonner Republik zum Problemfall entwickelt hat. Depkat gelang es dabei, einen Bogen zu schlagen, der den heutigen politischen Populismus aus den Werten der Gründerväter ableitete – das war Wasser auf die Mühlen der Geschichtslehrkräfte, die nunmehr erklären können, warum es gut und richtig ist, etwas über die Frühphase der amerikanischen Geschichte zu wissen.
Aber der Reihe nach: Depkats Gedankenführung nahm ihren Ausgang bei dem Country-Song „Rich men north of Richmond“ von Oliver Anthony aus Virginia, der den bis dahin völlig unbekannten Sänger im August 2023 unversehens an die Spitze der US-Charts katapultierte und aktuell bei Youtube eine virale Verbreitung findet. Die Single handelt von dem Gegensatz zwischen der einfachen amerikanischen Bevölkerung und der politischen Elite der Ostküstenmetropolen, die jene um ihren gerechten Lohn bringe. Erfolglos arbeite der einfache Mann hart, doch seine Welt und mit ihr die gute Ordnung zerfalle unter den Machenschaften jener „north of Richmond“, die systematisch und prozesshaft die totale Kontrolle über ihn anstreben würden. Dabei bleibe das Wir, von dem er redet, typisch unklar. Die zweite Strophe entwerfe die Vision einer neuen Welt, die eigentlich ein männlich dominiertes besseres Einst sei. Depkat fand somit in Anthonys Song die wesentlichen Merkmale einer Verschwörungstheorie versammelt. Er sei ein typisches Beispiel für diese Strömung in der amerikanischen politischen Kultur der Gegenwart.
Depkat unternahm dann den Versuch, die Anfälligkeit der amerikanischen Politik – nicht nur der gegenwärtigen – für Verschwörungstheorien historisch zu erklären und formulierte dazu eine prägnante These: Gerade die exzeptionalistischen und revolutionären Grundlagen der amerikanischen Geschichte machen die in den Prinzipien Individualismus, Selbstbestimmung und Selbstregierung gegründete Gesellschaft der USA besonders anfällig für Ideen, die in der Vorstellung ankern, dass ein Kollektiv von Verschwörern aus niederen Beweggründen danach strebt, das amerikanische Experiment eines Lebens in Freiheit und Selbstbestimmung zu zerstören. Diese These erläuterte er im Folgenden.
Der amerikanische Exzeptionalismus gründe erstens in der Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten anders entstanden seien und sich anders entwickelt hätten als der Rest der Welt und daher auch anders verstanden werden müssten. Strukturell daran gekoppelt sei ein moralisch aufgeladenes, universalistisch daherkommendes Überlegenheitsbewusstsein. Es finde sich bereits im Model of Christian Charity, das 1630 von John Winthrop, also von den Puritanern, den „Taliban des 17. Jahrhunderts“ (Depkat), formuliert worden sei und in der Metapher von Amerika als City upon a hill seinen Ausdruck finde. Der mit Gott geschlossene Bund könne nur funktionieren, wenn das moralische Verhalten der Siedler vorbildlich bleibe. Das utopische Gesellschaftsexperiment mit Gott stand somit stets in der Gefahr, zu scheitern und ein bloßes „Byword of history“ zu bleiben. Diese Spannung öffnete Verschwörungstheorien Tür und Tor und ermunterte die Siedler, einander zu überwachen. Ein mögliches Scheitern wurde auch in einer allzu unreflektierten Autonomie des Individuums gesehen.
Zweitens vergrößerte der egalitäre Radikalismus der American Revolution diese Angst noch. Wie konnte man das Individuum angesichts so großzügig gewährter Freiheitsrechte weiterhin in den Dienst der Allgemeinheit stellen? Wie konnte man verhindern, dass sich die Kolonisten in asoziale Individualisten wandelten, und so die soziale Kohäsion des individuellen Freiheitsgedankens garantieren. Hier zeigt sich eine Urangst der amerikanischen Kultur. Infolgedessen bemüht man sich seither ständig um die Einhegung der Autonomie zugunsten des Gemeinwohls. Daher spielte die Religion als moralische Ressource, die das Individuum an die Gesellschaft band, eine große Rolle. So sagte Präsident Eisenhower 1952: „Our government makes no sense unless it is founded in a deeply felt religious faith – and I don’t care what it is.“ Die säkulare Variante sei ein republikanischer Tugenddiskurs: Das Individuum befördert das Gemeinwohl der Republik. Herbert Hoover brachte dies auf den Begriff des Service. Der durch den Service eingehegte Individualismus sei zugleich ein Konzept, mit dem man sich gegen einen vermeintlich ungezügelten, egoistischen Individualismus europäischer Prägung absetze.
Der Konflikt um das Recht, Steuern zu erheben, wandte sich – drittens – erst in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zu einem Kampf gegen die Monarchie, nachdem er zuvor eigentlich ein Streit zwischen den kolonialen Assemblies und dem britischen Parlament gewesen sei. Jeffersons Text verwendet viel Aufwand, das despotische Potenzial der Monarchie darzulegen. Gedacht wird insofern ein Systemkonflikt zwischen monarchischer Despotie und freiheitlichen Systemen. Daher sind alle Formen von Zentralstaatlichkeit in den USA diskreditiert, denn sie würden zur Zerstörung der individuellen Autonomie führen. Macht müsse aus Sicht der Revolutionäre vertikal (Föderalismus) und horizontal (Gewaltenteilung) geteilt sein, um ein limited government zu gewährleisten. Diese antietatistische Grunddynamik mache Amerika anfällig für Verschwörungstheorien. So unterstellten Abolitionisten und Sklavenhalter einander bereits im 19. Jahrhundert die Absicht, den jeweils anderen kontrollieren zu wollen, und auch der Maßnahmenstaat von F. D. Roosevelts New Deal wurde umgehend Gegenstand konservativer Kritik, die jede Form einer zentralstaatlichen Regierung als unamerikanisch geißelte. In jüngerer Zeit äußere sich diese antietatistische Tradition in der Tea Party-Bewegung und in der Vorstellung eines deep state.
Der American Way of Life sei schließlich – viertens – in einer Agrargesellschaft begründet worden, die nach 1865 industriekapitalistisch transformiert wurde. Fortan gaben Corporations den Takt vor und es kam zu einer wirtschaftlichen Konzentration. Die neue Wirtschaftsordnung unterlief den American Way of Life komplett. So kam die Forderung nach einer verstärkten Regulierung der Trusts auf, um die Marktmacht der Großkonzerne zu beschneiden. Hier ankern die Verschwörungstheorien also in der Vorstellung eines giergetriebenen Komplotts reicher Eliten. ­– Damit war Depkat wieder bei Anthonys Lied angekommen und der Kreis hatte sich geschlossen.

Johannes Heinßen